Schulen für Erwachsene in Hessen

Entstehung, Entwicklung und Ist-Zustand

HLZ 12/2019: Erwachsenenbildung

Die ersten Einrichtungen eines „Zweiten Bildungswegs“, der auch Erwachsenen im deutschen Schulsystem einen Weg zu einem in der Schulzeit nicht erreichten Schulabschluss eröffnet, entstanden schon vor rund 100 Jahren. Die ersten hessischen Schulen des Zweiten Bildungswegs (ZBW) entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg, um zunächst vor allem jungen Männern die Möglichkeit zu geben, im Krieg abgebrochene Bildungswege an den ersten Abendgymnasien fortzusetzen und dies mit Beruf und Familie zu vereinbaren. Das erste Abendgymnasium (AG) wurde 1946 in Kassel gegründet, es folgten Frankfurt (1947), Darmstadt, Gießen und Offenbach (1955). Hessenkollegs (HK) mit einem Tagesangebot für junge Erwachsene entstanden in Wiesbaden (1959), Frankfurt (1960), Kassel (1961) und Wetzlar (1963). Als letztes kam 1964 das Hessenkolleg Rüsselsheim dazu, das allerdings 1990 nach 26 Jahren geschlossen und mit dem HK Wiesbaden zusammengelegt wurde. Opelaner Norbert Blüm war einer der Kollegiaten der frühen Phase.

Bildungsboom der 60er und 70er Jahre

Mit dem Bildungsboom der 60er und 70er Jahre wuchsen die Studierendenzahlen enorm an. Durch die neue Mobilität kamen auch Menschen aus ländlichen Regionen, die bislang nicht die Möglichkeit des höheren Bildungsabschlusses vor Ort hatten. Auch die Zahl der weiblichen Studierenden wuchs sprunghaft an, an vielen Standorten sind sie bis heute in der Mehrheit. In einer zweiten Phase kamen unter anderem die Abendgymnasien in Neu-Isenburg (1965, heute Dreieich), Wiesbaden (1966), Marburg (1969) und Heppenheim (1975) dazu sowie ein privates AG in Offenbach.

Die Gründung von Abendhauptschulen (AHS) und Abendrealschulen (ARS) war insbesondere der Perspektivlosigkeit von jungen Menschen ohne Schulabschluss auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt in den 80er und 90er Jahren geschuldet. Die Abendrealschule in Kassel entstand bereits 1962, es folgten Frankfurt, Marburg und Wiesbaden (1982), Darmstadt und Gießen (1984). Abendhauptschulen entstanden in Wiesbaden (1982), Darmstadt und Gießen (1984) und Frankfurt (1989). Die derzeit größte Schule für Erwachsene (SfE) ist die Frankfurter Abendhaupt- und -realschule mit zeitweise 800 Studierenden. Aufgrund des hohen Bedarfs wurde in Frankfurt vor rund 20 Jahren sogar eine zweite Abendhaupt- und -realschule an der Wilhelm-Merton-Schule, einer berufsbildenden Schule, eingerichtet. In Limburg gibt es an der Paul-Peter-Cahensly-Schule einen Abendgymnasiumszweig, in Alsfeld an der Max-Eyth-Schule einen Abendhaupt- und -realschulzweig. Gleichzeitig ging die Zahl der Studierenden an den Abendgymnasien zurück, da immer mehr Jugendliche die Möglichkeit erhielten, ihr Abitur bereits auf dem Ersten Bildungsweg zu erreichen. So wurden zum Beispiel die beiden Abendgymnasien in Frankfurt zusammengelegt.

Schulen für Erwachsene: Am Puls der Zeit

Die Schulen für Erwachsene (SfE) reagierten immer wieder auf gesellschaftliche Veränderungen. So bieten einige Abendschulen auch Unterricht am Vormittag oder Nachmittag an, vornehmlich für allein erziehende Mütter. Zur besseren Erreichbarkeit gründete die SfE in Darmstadt Außenstellen in Groß-Gerau (ARS) und in Michelstadt mit einem – inzwischen wieder eingestellten – gymnasialen Angebot. Die zunächst als „Außenstelle Kassel“ gestartete SfE in Bad Hersfeld wurde 2006 durch die Einbindung von Fulda zur SfE Osthessen. Heute ist der größere Anteil der Studierenden in Fulda, die Lehrerinnen und Lehrer arbeiten in beiden Schulen. Die Abendschulen und Hessenkollegs in Kassel und Wiesbaden sind zwar noch räumlich getrennt, haben aber inzwischen eine gemeinsame Schulleitung.

Die gesellschaftspolitischen Veränderungen der letzten Jahre, Flucht und Vertreibung in einer globalisierten, multipolaren Welt und der weitgehende Konsens, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, sind für die Schulen für Erwachsene bedeutsame neue Herausforderungen. Durch den Zuzug von Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern steigt auch die Zahl der Jugendlichen, die den Ersten Bildungsweg ohne Schulabschluss verlassen, wieder an. Nach der jüngsten Übersicht des Statistischen Bundesamts verließen 2017 5,2 Prozent der deutschen Jugendlichen die Schule ohne mindestens einen Hauptschulabschluss, bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund waren es 18,1 Prozent.

Die SfE bieten jungen Erwachsenen eine zweite oder dritte Chance, ihre Allgemeinbildung und die Chancen im Beruf zu verbessern oder die Studierfähigkeit zu erlangen. Für viele Geflüchtete ist es sogar die erste Chance. Sie machen ein Angebot an erwachsene Menschen, im Rahmen eines kontinuierlichen Lern- und Bildungsprozesses auf qualitativ hohem Niveau und in vertretbarer Lebenszeit Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, die ihnen erlauben, für ihr Leben und ihre Berufsperspektiven die Weichen neu zu stellen.

Eine zweite Chance für Bildungsbenachteiligte

Dennoch haben die SfE in Hessen im Laufe der letzten fünf bis zehn Jahre mit tendenziell sinkenden Studierendenzahlen zu kämpfen. Bei rückläufigen Arbeitslosenzahlen wird die SfE weniger als Ort nachgefragt, der in Phasen der Arbeitslosigkeit Neuorientierung geben kann.
Gleichzeitig wurden mit den Zugangstests für Abendgymnasien und der nur noch einmal im Jahr erfolgenden Aufnahme die Hürden zum Besuch einer SfE erhöht. Förderkurse zum Spracherwerb für Geflüchtete über 20 Jahre sind bereits wieder ausgelaufen. Der Übergang aus den Sprachförderkursen in die regulären Bildungsgänge der SfE ist weiter mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Deshalb fordern wir als Landesfachgruppe der GEW nach wie vor einen speziellen Vorlaufkurs Deutsch als Zweitsprache als Verbindungsglied zwischen dem Sprachintensivkurs und den regulären Bildungsgängen der SfE.
An den Abendgymnasien und Hessenkollegs hat der Erwerb der Fachhochschulreife gegenüber dem Abitur an Bedeutung gewonnen. Viele Studierende gehen nach der Q2 mit der Fachhochschulreife ab, um ein Studium an einer Fachhochschule zu beginnen oder auch an Universitäten, die für Studierende mit Fachhochschulreife geöffnet wurden. Auch wenn es nicht dem eigentlichen Auftrag der Abendgymnasien entspricht, können Studierende so aktiv ihren beruflichen Werdegang in die Hand nehmen.

Neue rechtliche und politische Hürden

Die Möglichkeiten der SfE, ihren Bildungsauftrag im Rahmen der gesellschaftlichen Veränderungen wahrzunehmen, wurden durch neue Rechtsvorschriften und Rahmenbedingungen in den letzten zehn bis 15 Jahren deutlich erschwert:

  • Die zweimalige Aufnahme von neuen Studierenden und die Möglichkeit, die Abiturprüfung zweimal im Jahr abzulegen, wurden abgeschafft.
  • Die SfE haben nur noch für wenige Fächer eigene Prüfungskommissionen, die in absehbarer Zeit in den Kommissionen des Ersten Bildungsweges aufgehen werden. Das führt zu erheblichen Anpassungsproblemen der SfE und einer immensen Verdichtung der Lerninhalte.
  • 2020 soll erstmals auch an den SfE das einheitliche hessische Landesabitur abgenommen werden. Dies stellt für die Studierenden eine deutliche Verschärfung dar, da sie die geringe Zahl von Unterrichtsstunden im Leistungskursbereich trotz Berufstätigkeit und Familie selbst kompensieren müssen.
  • Die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte haben sich weiter verschlechtert. Die Zeit, in der an den Abendgymnasien vor allem „gymnasiale Nebenamtler“ unterrichteten, sind lange vorbei, ebenso das früher für sie geltende Deputat von 19 Wochenstunden, das die Belastung durch die Arbeit am Abend ausgleichen sollte. Die Abendentlastung wurde schließlich komplett gestrichen. Ohne das Auf und Ab bei den Pflichtstunden hier nachzuvollziehen, gab es für viele Kolleginnen und Kollegen auf einen Schlag eine Erhöhung um vier Wochenstunden. Inzwischen haben Lehrerinnen und Lehrer mit gymnasialem Lehramt an den SfE trotz unüblicher Arbeitszeiten eine Stunde mehr zu unterrichten als Kolleginnen und Kollegen an beruflichen Schulen, es sei denn, sie arbeiten vornehmlich in der Q-Phase.
  • Es werden nicht mehr alle Schulleitungsstellen besetzt. Dabei geht der Trend zur Bündelung, durch die ein Leitungsteam für mehrere Schulen zuständig wird.
  • Ein ähnliches Bild gibt es bei den Lehrerstellen: Durch deren Nichtbesetzung entstehen Lücken in der Unterrichtsversorgung, die zunehmend durch Abordnungen gestopft werden sollen. Somit sehen sich die Kolleginnen und Kollegen zunehmend mit wechselnden Einsatzorten, Zeitfenstern und Abläufen konfrontiert. Initiativen zur Schulentwicklung werden so ausgebremst oder unmöglich gemacht.
  • Erwachsenenbildung im Zweiten Bildungsweg kommt weder im Referendariat noch im Portfolio der Anbieter von Lern- und Unterrichtsmaterialien vor.

Persönlichkeitsbildung für die Demokratie

Die Lehrkräfte an den SfE sind um so mehr auf ihre bereichsspezifischen Erfahrungen, ihre Professionalität und ihre didaktischen und pädagogischen Kompetenzen angewiesen, um der heterogenen erwachsenen Klientel gerecht zu werden und eine adäquate Schulentwicklung und Profilbildung zu ermöglichen. Dazu benötigen sie aber eine adäquate Ressourcenausstattung der Schulen und eine organisatorisch vollständige Leitungsstruktur.

Trotz der angeführten Verschlechterungen der Rahmenbedingungen haben sich die Schulen für Erwachsene den Herausforderungen gestellt und arbeiten vor Ort und hessenweit im Verbund an einem umfassenden Konzept der Qualitätsverbesserung. Eine entscheidende Funktion hat hier die beim Staatlichen Schulamt Gießen/Vogelsberg angesiedelte Zentralstelle Schulen für Erwachsene, die als Dienst- und Fachaufsicht die Qualitätsentwicklung koordiniert und die Schulprogrammarbeit begleitet. Die Besonderheiten der SfE und die mit der anstehenden Entwicklungsarbeit verbundenen Aufgaben erfordern nach wie vor eine gemeinsame, hessenweit aufgestellte Schulaufsicht. Sie ermöglicht auch die Personalvertretung in einer Hand durch den Gesamtpersonalrat beim Staatlichen Schulamt Gießen/Vogelsberg.

Obgleich die Bedingungen immer schwerer werden, kämpfen wir dafür, diesen wichtigen Bildungsgang weiterhin zu erhalten und den jeweiligen gesellschaftlichen Situationen anzupassen, denn wir vermitteln Allgemeinbildung und Abschlüsse, leisten wichtige Integrationsarbeit und tragen zur Stärkung der Persönlichkeiten in einer demokratischen Gesellschaft bei.

Eva Bender-Gilchrist, Bernd Kaudewitz, Janette Leipert