Bereits vor nunmehr 14 Jahren haben mein Kollege Peter Adamski und ich in der HLZ (5/2010) einen Beitrag unter dem Titel „Lehrer kann jeder“ veröffentlicht, um auf die aus unserer Sicht unhaltbare Situation hinzuweisen, dass ein Großteil der Lehramtsstudierenden an der Goethe-Universität Frankfurt als Vertretungslehrkräfte tätig war. Wir gingen damals von ca. 20 Prozent aus, die einer regelmäßigen Beschäftigung an einer Schule nachgingen. Genaue Zahlen gab es nicht, weil sie nicht erhoben wurden. Darüber hinaus sprang eine nicht unerhebliche Anzahl Studierender immer wieder als Vertretungsreserve im Rahmen der „Verlässlichen Schule“ ein, wenn plötzlich Lücken im Stundenplan zu schließen waren.
Die Studierenden mit einem festen Vertrag übernahmen als befristet angestellte Vertretungskräfte des Landes, die noch nach dem alten BAT eingruppiert wurden, alle Aufgaben, die im Alltag einer Lehrkraft üblicherweise anfallen: Klassenleitung, Klassenfahrten, Elternabende, Abnahme von Abschlussprüfungen und so weiter. In der Regel genügten ein erstes Schulpraktikum und das Studium eines Mangelfaches, um in den Genuss eines Arbeitsvertrages zu kommen. In der Wahrnehmung der Studierenden und anderer pädagogisch Unbedarfter war dies eine optimale Verzahnung von Lehramtsstudium und pädagogischer Praxis: Die Praxis an den Schulen wurde als Erprobungsfeld für „pädagogische Begabung“ begriffen. Dass es sich um eine unreflektierte und theorielose Praxis handelte, wurde nicht zur Kenntnis genommen. Von der Qualität des Unterrichts sprach man erst gar nicht. Wichtig war nur, dass der Unterrichtsausfall irgendwie kompensiert wurde.
Seither hat sich nichts zum Besseren gewendet. Ganz im Gegenteil: Auch wenn die Kultusminister beziehungsweise die Landesregierungen wechselten, verschärfte sich der Lehrkräftemangel insbesondere in den nichtgymnasialen Schulformen immer weiter – und mit ihm die Anzahl der studentischen Lehrkräfte an hessischen Schulen. Fast alle Lehramtsstudierenden sind regelmäßig als Lehrkraft tätig. Eingruppiert in die unteren Tarifgruppen 6 oder 8 TV-H (nach dem erfolgreichen Abschluss der Praxisphasen) stopfen sie als billige und nicht ausreichend qualifizierte Arbeitskräfte die Lücken, die eine kurzsichtige Bildungs- und Ausbildungspolitik über viele Jahre gerissen hat. Anstatt die Schulen in ausreichendem Maße mit qualifizierten Lehrkräften zu versorgen, wurde in den letzten Jahren ein Steuerungs- und Regulierungsprojekt nach dem nächsten gestartet. Durch die massenhafte Einstellung von Studierenden und Quereinsteiger:innen wird die Dequalifizierung des Lehrerberufes billigend in Kauf genommen. Die Studierenden begreifen ihre Tätigkeit nach wie vor als praktische Bereicherung des ihrer Ansicht nach viel zu theorielastigen Studiums. Viele vernachlässigen dabei das Studium, weil sie der Doppelbelastung nicht gewachsen sind, beziehungsweise das Studium als zweitrangig erachten. Die universitären Praxisphasen, die dazu beitragen sollen, die Lehrerrolle und das unterrichtliche Handeln angeleitet theoretisch zu reflektieren, werden von vielen Studierenden als überflüssig oder leidige Verpflichtung erachtet. Darüber hinaus müssen sie sich für die Zeit des Praktikums an „ihren“ Schulen unbezahlt beurlauben lassen und erleiden Einkommensverluste. Nicht selten erleben wir die nahezu absurde Situation, dass studentische Lehrkräfte als Mentorin oder Mentor ihrer Kommiliton:innen im Praktikum amtieren.
Ohne die Studierenden und Quereinsteiger:innen wäre der Betrieb an vielen hessischen Schulen schon heute nicht mehr aufrechtzuerhalten. Wie die Entwicklung in den kommenden Jahren angesichts rückläufiger Studierendenzahlen in den Lehramtsstudiengängen aussehen wird, mag man sich nicht vorstellen. Daneben stellt sich aber noch ein ganz anderes Problem: Der verstärkte Einsatz von studentischen und anderen nicht ausreichend qualifizierten Lehrkräften kann dazu beitragen, die soziale Ungleichheit im Bildungswesen zu verstärken. Denn diese unterrichten mehrheitlich an Grundschulen sowie an Gesamt-, Haupt- und Realschulen. Dort, wo eigentlich die am besten ausgebildeten Lehrkräfte arbeiten sollten, um benachteiligten Kindern und Jugendlichen die größtmögliche Unterstützung zu gewähren und eine gute Bildung zu ermöglichen, sind vielfach pädagogische Laien tätig. An den Gymnasien ist die Not möglicherweise noch nicht so groß oder man fürchtet den Widerstand der Eltern. Ein Personalrat einer Gesamtschule verriet mir kürzlich hinter vorgehaltener Hand: „Wir verstecken die studentischen Lehrkräfte im Hauptschulzweig. Dort beschweren sich die Eltern nämlich nicht.“
Die Politik ist dringend aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, dass insbesondere die Schüler:innen, die eine nicht gymnasiale Schule besuchen, von qualifizierten und hoch motivierten Lehrkräften unterrichtet werden. Mit der Novelle des Lehrkräftebildungsgesetzes 2022 wurden diesbezüglich Chancen vertan, weil die Ausbildungszeiten der Grund-, Haupt- und Realschullehrkräfte nicht erhöht wurden. Ob der neue Kultusminister, der nun auch Minister für Chancen ist, dies nachholen wird, bleibt abzuwarten. Bislang hat er allerdings wenig unternommen, dem Lehrkräftemangel wirkungsvoll entgegenzuwirken.