Im Gespräch mit GEW-Mitgliedern im Sozial- und Erziehungsdienst

Profession Soziale Arbeit

HLZ Mai 2023: Soziale Arbeit

Am 23. März in der heißen Phase der Warnstreiks der Beschäftigten der Kommunen und des Bundes im Bereich des TVöD sprach HLZ-Redakteur Harald Freiling mit sechs GEW-Mitgliedern aus unterschiedlichen Berufsfeldern der Sozialen Arbeit über ihre Arbeitsbedingungen und ihr professionelles Selbstverständnis:

  • Sylvia Bausum: Diplom-Sozialarbeiterin im Leitungsteam einer Horteinrichtung und stellvertretende Betriebsratsvorsitzende bei der ASB Lehrerkooperative Frankfurt, Mitglied im Vorsitzendenteam der Landesfachgruppe Sozialpädagogische Berufe der GEW Hessen
  • Simon Benecken: Erzieher und Betriebsrat, Sozialpädagogischer Verein Frankfurt
  • Anna Elsässer: Sozialpädagogin in der sozialpädagogischen Einzelbetreuung bei einem Freien Träger im Raum Darmstadt, Mitglied in Vorsitzendenteam der Landesfachgruppe Sozialpädagogische Berufe der GEW Hessen
  • Benedikt Heddesheimer: Erzieher und Personalrat, Kita Frankfurt, Mitglied der GEW-Tarifkommission
  • Steve Kothe: Diplom-Sozialarbeiter in den ambulanten Hilfen zur Erziehung und Betriebsrat, ASB Lehrerkooperative, Mitglied im Leitungsteam des Referats Sozialpädagogik der GEW Hessen
  • Pascal Zimmer: Sozialpädagoge in einer Sozialpädagogischen Jugendwohngruppe, Verein Arbeits- und Erziehungshilfen Frankfurt


HLZ: Wir stehen gerade mitten in einer Tarifrunde und ihr alle wart in dieser Woche zum Streik aufgerufen ...

Simon: Nein, nicht alle. Ich bin als Erzieher bei einem freien Träger beschäftigt, der sich nur an den TVöD anlehnt. Deshalb sind wir nicht zum Streik aufgerufen.

Pascal: Das ist bei mir auch so. Der Verein Arbeits- und Erziehungshilfen ist zwar eng mit der Stadt Frankfurt verbunden, aber auch wir sind nicht zum Streik aufgerufen. Das heißt aber nicht, dass wir bei den öffentlichen Aktionen nicht dabei sind, um unsere Solidarität zu zeigen.

Steve: Da sind wir bei der ASB Lehrerkooperative zum Glück ein Stück weiter. Bei uns gibt es eine dynamische Anbindung an den TVöD und deshalb sind wir auch in die Streiks aktiv einbezogen ...

Sylvia: … und um es nicht zu verschweigen, hat der Abschluss eines hauseigenen Manteltarifvertrags mit der Anbindung an den TvöD den Kolleginnen und Kollegen über die Jahre gesehen ein deutlich höheres Einkommen gebracht…

Steve: … aber auch deshalb, weil die Bezahlung vor der Anbindung an den TVöD, die wir hart erkämpfen mussten, besonders schlecht war.

HLZ: Wenn die HLZ mit diesem Gespräch Anfang Mai erscheint, werden wir dann über das Tarifergebnis berichten können ...

Sylvia: Da bin ich mir gar nicht so sicher. Noch sind wir sehr weit von einem akzeptablen Angebot der Arbeitgeber entfernt und angesichts der allgemeinen Preissteigerungen und dem Abstand der Sozialen Arbeit zu anderen Berufen sind die Kolleginnen und Kollegen ziemlich sauer.

HLZ: Heißt das, du kannst dir einen Erzwingungsstreik vorstellen?

Benedikt: Ich weiß wirklich nicht, was mich erwartet, wenn ich als Mitglied der GEW-Tarifkommission nächste Woche zur dritten Verhandlungsrunde nach Potsdam fahre. Ich arbeite in einer städtischen Kita in Frankfurt und damit im unmittelbaren Geltungsbereich des TVöD. Und da gibt es nach meinem Eindruck eine hohe Kampfbereitschaft.

Anna: Ich bin bei einem freien Träger der ambulanten Jugendhilfe beschäftigt. Unsere Arbeit wird durch die Jugendämter finanziert. Wie bei vielen Trägern dieser Art ist in meinem Arbeitsvertrag eine Anlehnung an den TVöD vermerkt. Wann und wie uns das Tarifergebnis letztlich erreicht, hängt von weiteren Entscheidungen nach Abschluss der Tarifverhandlungen ab. Bei uns kommt hinzu, dass die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen in der Regel erst nach der Schule beginnt und unsere Arbeitszeit bis in den Abend reicht. Das erschwert übrigens auch das ehrenamtliche Engagement in einer Gewerkschaft …

Simon: Ich nehme das ganz ähnlich wahr. Viele Kolleg:innen sind in Teilzeit, um Familie und Beruf zu vereinbaren, sind erschöpft und bringen viel Kraft auf, um die Kinder im Alltag gut zu begleiten. Es fehlt an Zeit und manchmal auch an einer gemeinsamen Perspektive, wie die Arbeitsbedingungen in den Kitas in Zeiten des massiven Personalnotstands wirksam verbessert werden können.

Pascal: An meinem Arbeitsplatz der Wohngruppe haben wir zudem Schicht- und Nachtarbeit ...

HLZ: … was man in deinem Artikel in dieser HLZ auf Seite 14 nachlesen kann ...

Pascal: … denn wir sind rund um die Uhr präsent. Die Kolleginnen und Kollegen setzen eher auf individuelle Lösungen als auf kollektives Handeln.

HLZ: Gibt es in euren Berufen nicht auch immanente Hemmschwellen, zu streiken und auf die Straße zu gehen?

Simon: Du meinst so etwas wie die „soziale Mütterlichkeit“, die in der Zeit der Kinder- und Jugendfürsorge das traditionelle Bild der sozialen Berufen mitbestimmt hat? Es gibt sicher eine mehr oder weniger ausgesprochene Befürchtung, dass man doch die Kinder und Eltern nicht im Stich lassen könne. Deshalb zerreiben sich viele eher in der Fürsorge, als sich für die Interessen der eigenen Berufsgruppe einzusetzen.

Sylvia: Das gibt es sicher immer noch, aber da ändert sich gerade was. Zum professionellen Selbstverständnis gehört immer mehr, dass unser Kernauftrag in den Kitas die frühkindliche Bildung ist. Dafür haben wir eine gute hochwertige Ausbildung, nicht um möglichst viele Kinder zu möglichst geringen Kosten aufzubewahren.

Simon: Das finde ich völlig richtig. Doch die Politik hat die Weichen anders gestellt. Seit 20 Jahren geht es doch beim Ausbau des Kita-Systems in erster Linie um Betreuung. Von dem Weckruf von PISA, warum frühkindliche Bildung und individuelle Förderung in den ersten Jahren so wichtig sind, ist nicht mehr viel geblieben.

Steve: … aber dagegen müssen wir die Tatsache setzen, dass gute Arbeitsbedingungen auch den Kindern und Familien zugute kommen.

Anna: Dieses Gefühl der fehlenden Anerkennung pädagogischer Arbeit und von Ungerechtigkeit gibt es auch bei uns. Eine besonders hohe Arbeitsbelastung, Anspannung und Frustration beobachten wir bei den Kolleginnen und Kollegen in den Jugendämtern, die auch unter Fachkräftemangel leiden. Wo bleibt die Zeit für Reflexion? Wo bleibt die Zeit für die Beziehungsarbeit mit den Familien?

HLZ: … Zeit für mehr Zeit ...

Simon: Natürlich tragen die Menschen in der Sozialen Arbeit eine hohe Verantwortung und der wollen sie auch gerecht werden. Aber dieser Kern der Profession wird gern gegen uns gerichtet: „Wollen Sie wirklich bei diesem hohen Krankenstand auf der Freistellung für die Betriebsratsarbeit bestehen?“ So wird einem von Arbeitgeberseite schnell ein schlechtes Gewissen gemacht. Vor allem aber schwindet die Zeit für erfüllende Arbeit.

Anna: Es ist Teil unserer Arbeit, uns von den Lebenssituationen der Menschen, mit denen wir arbeiten, berühren zu lassen. Das legt die Grundlage für unsere Arbeit, nämlich die  Beziehung. Ich will aber nicht, dass dieser Kern meiner Arbeit dann noch gegen mich gerichtet wird, dass die Forderung nach mehr Geld oder besseren Arbeitsbedingungen schon deshalb als unangemessen empfunden wird, weil es „meinen Klientinnen und Klienten doch so viel schlechter geht“.

Pascal: Ich habe vorhin von den individuellen Lösungen gesprochen. Das muss nicht die Teilzeit oder der Ausstieg aus dem Beruf sein. Mein Stichwort ist hier die Selbstwirksamkeit: Ich mache etwas, plane einen Ausflug, ein Projekt, das unmittelbar wirkt. Ich bin sogar stolz, wenn wir eine Krise durch eine Vertretungslösung innerhalb des Teams gemeinsam gemeistert haben, aber ich will dann nicht, dass man mir daraus einen Strick dreht: Wenn ihr das jetzt mit weniger Personal geschafft habt, dann kann das ja auch so bleiben.

Sylvia: Genau das ist das Elend der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit. Da sitzen Betriebswirte mit Kennziffern und Excel-Listen, die von der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eigentlich keine Ahnung haben und uns vorschreiben wollen, wie wir pädagogisch sinnvoll arbeiten. Es geht oftmals nur noch um Refinanzierbarkeit, aber nicht mehr wirklich um diejenigen, an die sich unsere Arbeit richtet.

HLZ: Wie seht ihr denn auf diesem Hintergrund den Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung im Grundschulalter?

Sylvia: Ehrlich gesagt sehe ich das sehr kritisch. So wie ich die bisherigen Planungen für den schulischen Ganztag in Frankfurt verfolge, wird die Betreuung nicht ausgeweitet, sondern noch weiter auf eine reine Aufbewahrung reduziert. Ganz verkürzt: Für die Erweiterte Schulbetreuung in Frankfurt gilt schon jetzt der Standard 30 Prozent Nichtfachkräfte, 70 Prozent Fachkräfte. Mit dem Pakt für den Ganztag folgen weitere Einschnitte: Die Klassen 1 und 2 sollen zukünftig noch hortähnlich betreut werden – und das wohl verpflichtend – und die Klassen 3 und 4 wandern in den Pakt für den Ganztag, der überwiegend freiwillig ist und überhaupt keine Fachkräfte mehr vorsieht und nur noch mit Hilfskräften und Ehrenamtlichen auskommen soll…

Benedikt: … mit der Folge, dass Kinder ohne ein familiäres Netzwerk durchs Raster fallen. Die soziale Schere geht auseinander. Für mich ist die bessere Ausstattung der Kitas mit qualifizierten Personen das A und O. Dann kann ich die Gruppen verkleinern, mehr Zeit für Reflexion, für Vor- und Nachbereitung bereitstellen und endlich das machen, wofür ich ausgebildet wurde. Aber genau diese Professionalisierung wird durch die vielen Nichtfachkräfte abrupt gestoppt. Wenn es für unsere Arbeit reicht, dass man „gut mit Kindern kann“, dann Gute Nacht ...

Steve: Ich will über die Kolleginnen und Kollegen gar nicht den Stab brechen. Die machen oft sehr gute Arbeit und ohne sie würde der Laden zusammenbrechen. Aber es ist ein Thema, das eine Bildungsgewerkschaft wie die GEW nicht kalt lassen kann. „Profis brauchen mehr“ steht auch auf unseren Streikplakaten – das ist ein wesentlicher Grund für mich, in der GEW zu sein, mich mit euch und anderen in den Fachgruppen und auch auf der Straße auszutauschen.

Simon: Wir müssen uns ja auch darüber klar sein, dass die Aufweichung des Fachkräfteprinzips vor allem die prekäre Beschäftigung vorantreibt. Deshalb muss es für Quereinsteiger:innen echte Qualifizierungsangebote geben, die nicht in berufliche Sackgassen führen. Und jede Form der berufsbegleitenden Qualifizierung erfordert ausreichende Ressourcen bei den Fachkräften für die Unterstützung, Anleitung und Begleitung.

Anna: In den Jugendämtern ist ein solcher Einsatz von Nichtfachkräften keine Option…

Steve: … schon allein wegen der Garantenstellung …

Anna: … aber um so höher wird der Druck. Wir hören von Überlastungsanzeigen von Beschäftigten aus den Jugendämtern, um sich abzusichern. Und andere steigen ganz aus. Die Wartezeiten für die Familien sind lang und erhöhen die Not. Ich arbeite mit den Familien, für die es schon einen Hilfeplan gibt und die Ressourcen freigegeben sind, aber viele andere stehen ewig auf der Warteliste ...

Steve: … was zu weiteren Fällen von Kindeswohlgefährdungen führt, in denen dringend adäquat geholfen werden muss.

HLZ: Könnt ihr denn bei dieser Beschreibung eures Alltags überhaupt noch dazu raten, den Beruf zu ergreifen?

Anna: Ich weiß nicht, ob es die Aufgabe einer Gewerkschaft ist, für einen Beruf zu werben. Aber ja, ich mache meine Arbeit gern, die Familien, mit denen ich arbeite, geben mir viel zurück. Aber deshalb kann ich doch trotzdem mit den Arbeitsbedingungen unzufrieden sein und für Veränderungen eintreten.

Benedikt: Ich weiß auch gar nicht, ob das mit Werbekampagnen für die Berufe im Sozial- und Erziehungsdienst so klappt. Wenn ich die Kinder in meiner Kita frage, was sie mal werden wollen, dann höre ich immer: „Ich will viel Geld verdienen.“ Solange sich an der Bezahlung nichts ändert, wird es auch beim Personalmangel bleiben.

Simon: Die praxisintegrierte Ausbildung, die dann auch bezahlt wird, finde ich einen guten Schritt. Die vorgeschaltete Ausbildung zur Sozialassistenz sehe ich eher als Hindernis.

Pascal: Ich beschreibe mal meinen inneren Konflikt: Ich bin sehenden Auges in einen Beruf gegangen, von dem ich wusste, dass ich da nicht reich werde. Ich habe es auch bisher nicht bereut, aber ich will mich gerade aus dieser Überzeugung für den Beruf und unsere Arbeit in den gesellschaftlichen Prozess einmischen, in dem die Wertigkeit und die Bezahlung unterschiedlicher Berufe und Tätigkeiten ausgehandelt werden. Und um diesen inneren Konflikt auszuhalten, muss ich meine Selbstwirksamkeit stärken.

Sylvia: Das haben wir doch in der Pandemie gesehen: Ohne die Kitas und ohne die Schulen können die Eltern, vor allem die Mütter, nicht wie gewohnt arbeiten gehen. Das muss der Gesellschaft viel mehr wert sein, als es jetzt der Fall ist.

HLZ: Ich will noch mal auf euer professionelles Selbstverständnis zurückkommen. Ist das auch eine Aufgabe für eine Gewerkschaft, die Professionalisierung zu unterstützen?

Steve: Definitiv. Deshalb sitzen wir doch hier zusammen, deshalb haben wir gleich nach dem Schwerpunktthema „Soziale Arbeit“ in der HLZ 9-10/2022 die nächste in Angriff genommen. Deshalb gibt es die Fachgruppen, deshalb machen wir Fachtagungen, deshalb stehen wir gemeinsam auf der Straße. Sicher gibt es dafür die Fachverbände wie den FAPP (HLZ S.16-17), aber auch im gewerkschaftlichen Kontext ist das für mich definitiv unverzichtbar.

Anna: Dass wir gemeinsam Forderungen aufstellen, wie unsere Arbeitsbedingungen so verbessert werden, dass wir fachlich gut arbeiten können, dass wir uns regelmäßig austauschen, das stärkt mein professionelles Selbstverständnis und Identitätsgefühl. Allein geht das nicht! Und besonders in der GEW, die immer noch sehr schullastig ist. In der letzten HLZ zur Kampagne war eine Abbildung mit dem Text „Zeit für mehr Zeit – auch für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst“. Warum eigentlich „auch“?

HLZ: Du hast recht, das werden wir in der neuen HLZ ändern. Und vielen Dank für das Gespräch.